Publikum

Große Resonanz bei der Veranstaltung zur Siedlungsentwicklung in Großenritte

„Muss Baunatal wachsen auf Kosten weiterer Flächenversiegelungen?“ – diese Frage bewegte nicht nur zahlreiche Kommunalpolitiker*innen der GRÜNEN in Baunatal, sondern auch mehr als 100 Bürger*innen in Baunatal, die die Veranstaltung am 15.06.23 besuchten. 

Monika Woizeschke, eine der beiden Sprecherinnen des Ortsverbandes der GRÜNEN in Baunatal, begrüßte mit Freude die große Anzahl der Gäste, die den Weg zu dieser impulsgebenden Info-Veranstaltung mit Vorträgen und Diskussionen in den Hessischen Hof gefunden haben und stimmte schon gleich inhaltlich auf das Thema ein, indem sie die Auswirkungen auf Natur und Umwelt, die die Flächenversiegelung des anvisierten Neubaugebietes in Großenritte mit sich bringen würde, grob umriss.

Danach leitete Juri Stölzner, seines Zeichens Vorstandssprecher der GRÜNEN im Landkreis Kassel und Mitglied im OV Baunatal, welcher die Moderation des Abends übernahm, an den ersten Gastredner Prof. Dr.-Ing. Uwe Altrock weiter. Er ist Dekan der Uni Kassel, im Fachbereich Architektur mit dem Schwerpunkt Stadterneuerung und Planungstheorie. Sein hochinteressanter Fachvortrag umspannte Themen diverser Möglichkeiten einer moderaten und verträglichen Nachverdichtung mit Beispielen von Innenstadtentwicklung statt Siedlungsneubau. Er zeigte auch generell auf, welche gesamtgesellschaftlichen Aspekte, z.B. demografische, beim Re-urbanisieren von Ballungszentren und Leben in den sogenannten Speckgürteln gerade hinsichtlich der Veränderung von Wohnflächenkonsum mit steigendem Alter berücksichtigt werden müssen. D.h. derzeitig werden pro Person ca. 45 qm Wohnfläche verbraucht, wobei dieser Konsum, statistisch belegt, mit steigendem Lebensalter sich gegenüber dem eines Kindes vervielfacht. Viele Menschen bewohnen im Alter alleine große Häuser und Grundstücke. Weswegen sein erstes Fazit lautete: Vielfältige, individuelle Unterstützung für Neuverwendung, nachhaltige Sanierung und Modernisierung, Aufstockung, Innenverdichtung durch Grundstücksaufteilungen usw. sollen dazu führen, vorhandene, also bereits verbrauchte, Flächen effektiver für größere Bevölkerungsteile zu nutzen.

Nach wie vor haben wir täglich bundesweit einen Flächenverbrauch von 55 ha für Siedlungs-, Industrie- und Verkehrsprojekte. Wir benötigen eine Flächenkreislaufwirtschaft. Es muss mehr Wert auf Nachhaltigkeitsziele gelegt werden. Entwicklungen auf der Grünen Wiese widersprechen dem anvisierten 30 ha Flächenverbrauchsziel. Neue Anforderungen für Außenentwicklung müssen definiert werden, wie können neue Quartiere nutzungsgemischt gestaltet werden? Die (Folge-)Kosten können die Kosten auf der Einnahmeseite der Städte und Gemeinden immens übersteigen.

Auch die Innenentwicklung stellt große planerische Anforderungen an die Städte dar und ist anspruchsvoll, damit z.B. nicht nur durch den Neubau von Stadtvillen Wohnraum für gutsituierte Stadtbürger*innen mit Luxusansprüchen geschaffen wird. Untersuchungen sollten dementsprechend für die Innenbesiedelung/Verdichtung folgende Kriterien beinhalten wie die Wohnattraktivität, Nachhaltigkeit, Mobilisierbarkeit, Stadtentwicklung. 

Anbau, Umbau, Lückenschluss, Aufbau/Aufstockung käme nach Prüfung und Bewertung in Städten z.B. für Flachbauten wie Supermärkte, Messen, Kinos, Parkplätzen, Warenhäusern usw. infrage. Prof. Altrock benannte als Beispiel große Parkplatzflächen und Stellflächen in Kassel-Waldau, die prinzipiell überbaut werden könnten. Veränderte, auch z.T. umgewandelte Bebauung zur Nutzung brachliegender oder nicht mehr genutzter Flächen, z.B. bei Militärbauten (= sogenannte Konversionsflächen) stellen hohe Anforderungen für öffentliche Steuerung, sind aber als Einzelstandorte für Städte am ehesten realisierbar.


Im Anschluss umriss Prof. Altrock grob, welche Punkte bei einem gesamtgesellschaftlich integriertem, fortlaufendem Stadtentwicklungskonzept zu bearbeiten wären: Bedarfseinschätzung, Potentialerhebung, Potentialbewertung, Zielgruppen, Wunsch nach urbanem Wohnen, Mobilisierungsstrategie, Aktionsbündnis, Vermeidung von Quartiersüberalterung, Innovative Wohnkonzepte, Mehrgenerationenwohnen usw.

Dr.-Ing. Alexander Liehr von der Bürgerinitiative „Großenritte Nord“ benannte das Anliegen, Informationen, die im Vorfeld nicht gegeben worden sind, von der Stadt Baunatal einzufordern,weitere Impulse und Fakten zu sammeln und einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu geben als eine der Hauptaufgaben der BI. Es gehe gar nicht darum, ein Baugebiet generell abzulehnen, doch die Art und Weise der fehlenden Bürgerbeteiligung und vor allen Dingen natürlich die immense Größe, die eine Flächenversiegelung von ca. 32 Fußballfeldern und davon zu großen Teilen die Vernichtung von wertvollstem Ackerlandes der höchsten Bodenstufe bedeutet, seien Aspekte, die eine Folgeneinschätzung im Vorfeld nötig machen. Er erläuterte sehr plastisch, dass dieser seit Jahrtausenden gewachsene, ökologisch wertvolle Ackerboden für die Regionalversorgung dann verloren ist. „Was weg ist – ist weg!“ Ironisch fügte er hinzu, dass dieser auch nicht einfach mit zigtausendfachem LKW-Umtransport woandershin gekarrt werden kann – wohin??? – sonst würde er seine Zukunft als gutverdienender Fuhrunternehmer sehen. Die Bodenqualität des Ackerlandes bedeutet Ernährungssicherheit und die Direktvermarktung, z.B. der Kartoffeln auf dem Baunataler Wochenmarkt, ist regional und nachhaltig.

Fakt ist, dass 10% der vorgesehenen Fläche der Stadt gehören, d.h. 90% müssten von einer überschaubaren Anzahl von Eigentümern angekauft werden. Vorgeschriebene naturnahe Ausgleichsflächen sind landkreisweit derzeit nur zu 55% umgesetzt worden, es ist unklar, ob die Stadt Baunatal auch in diesem Bereich noch Nachholbedarf bei Ausgleichsflächen für vorherige Baugebiete hat.

Lothar Rost, Stadtverordneter der GRÜNEN in Baunatal, erläuterte die Hürden, die durch übergeordnetes Planungsrecht von der Stadt noch zu überwinden sind. Zum einen muss der Regionalplan in der Regionalversammlung beraten und beschlossen werden, danach muss der Flächennutzungsplan vom Zweckverband Raum Kassel geändert werden. Im Anschluss daran kann die Stadt tätig werden mit Aufstellungs-, Entwurfs- und Satzungsbescheinigung bzw. Beschluss. Es ist zweifelhaft, ob diese Beratungen und Beschlüsse aufgrund der derzeitigen politischen Verhältnisse und Mehrheiten im Hinblick auf eine Verhinderung der Großflächenbebauung positiv beeinflusst werden können. 

Ein Bürgerbegehren benötige 2.300 Unterschriften, ein Bürgerentscheid benötige 5.600 „Ja“ Stimmen von Baunataler Bürger*innen.


Insgesamt wurde an dieser Stelle die Initiative des Großenritters Luis Möller zur Initiierung einer Online-Petition, welche schon über 2.200 Menschen unterschrieben haben, hervorgehoben und mit Beifall gewürdigt. Der junge Baunataler ist jetzt einer der führenden Köpfe der BI GroßenritteNord.

In etlichen Redebeiträgen aus dem Publikum wurde von bewegten Bürgerinnen und Bürgern immer wieder die Frage aufgeworfen, warum die Stadt Baunatal gleich auf Angebote der deuhab(Deutsche Habitat – Entwicklungs- und Investitionsgesellschaft aus Berlin) zur Siedlungsentwicklung von 23 ha am Ortsrand von Großenritte eingegangen ist und eine Absichtserklärung unterzeichnet hat, bevor ein eigenes, umfangreiches Siedlungskonzept unter Berücksichtigung von infrastrukturellen, finanziellen, klimatechnischen und ökologischen, Nachhaltigkeits-Aspekten zusammen von der Stadtgesellschaft entwickelt wurde.


Auch weitere Folgekosten, die entstehen werden, nicht nur für zusätzliche Verkehrsinfrastruktur, sondern z.B. für Kindergartenplätze seien im Vorfeld nicht kalkuliert und wögen Grundsteuereinnahmen durch zusätzliche Bebauung nicht auf. Besorgte Bürger*innen sehen einen zusätzlichen Einkaufs-Durchgangsverkehr von geschätzten 2000 zusätzlichen Fahrzeugen auf der Elgershäuser Straße durch Großenritte Richtung Besse und Hertingshausen, da das vorhandene Nahversorgungsgeschäft in Großenritte jetzt schon ausgelastet ist … übrigens ebenso wie die Grundschule in Großenritte.

Ein ebenso bewegendes Thema waren klimatechnische Veränderungen durch die Bebauung der Wind- und Kälteschneise am Ortsrand zu Großenritte. Diese Folgen seien übrigens ziemlich absehbar. Auch Edmund Borschel, Fraktionsvorsitzender der GRÜNEN in Baunatal betonte, dass das Baugebiet massiv für eine Erwärmung nicht nur im direkt angrenzendem Stadtgebiet sorgen wird. Alexander Liehr ergänzte: Es gibt dafür eigene Klimafunktionskarten des Zweckverbandes Raum Kassel  (2019) und eine Untersuchung der Uni Kassel, die belegt, dass es in Kassel-Stadtmitte ca. 4 Grad wärmer ist als in den Randbezirken. Gleichzeitig steigen übrigens seit ein paar Jahren bundesweit die Zahlen der hitzebedingten Todesfälle.


Eine berechtigte Frage eines Bürgers bezog sich auf ein prognostiziertes Sinken der Bevölkerungszahl von Baunatal aufgrund der Transformationsumstellungen bei VW mit damit einhergehendem Abbau von Arbeitsplätzen und aus welchem Grund dann überhaupt ein so großes Baugebiet ausgewiesen werden soll?


Zum Thema Einwohnerzahl und Flächenverbrauch kamen noch folgende Fakten auf den Tisch:

In Baunatal lebten 1997 ca. 27.300 Menschen, fünf Jahre später lag dann die Einwohnerzahl ebenso hoch wie heute, nämlich bei ca. 28.500, allerdings hat sich in diesem Zeitraum der letzten 20 Jahre die versiegelte Fläche der Stadt um ca. 30 ha vergrößert.

Als Ausblick wurden noch als weitere Impulse gesetzt: 

Könnte man ein Siedlungskonzept 2030 initiieren?

Kann Bodenschutz im Baurecht verankert werden? 

Anfrage bei der Stadt bzgl. Der realisierten Ausgleichsflächen für vorherige Flächenversiegelungen?

Und letztendlich: Wäre es sinnvoll und erfolgversprechend, ein Bürgerbegehren und ggfs. einen Bürgerentscheid anzustreben?

Moderation: Juri Stölzner, Gäste: Lothar Rost (GRÜNE Baunatal), Alexander Liehr (BI Großenritte) und Uwe Altrock (Uni KS)

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